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D911 - Kapitel 3



»Wollen Sie wirklich gleich alleine los? Dann würde ich Sie schnell mit dem Nötigsten ausstatten.« Die Geschäftsführerin eilte den langen Gang mit ihm zurück und bog in eine Umkleide ein. Dort öffnete sie einen der namenlosen Spinde und zog eine schmutzige, beigefarbene Umhängetasche hervor. »Ich nehme an, Sie sind sich über den Wert dieser Tasche und ihrer Funktion im klaren?«, fragte sie. Vorsichtig nahm er das schlaffe Etwas an sich. Sein Puls wurde schneller. »Ist sie aufgeladen?« »Wenn sie in der Umkleide liegt, ist sie auch geladen. Der Ladekasten befindet sich in einem Raum nahe meines Büros und nur ich und mein Vertreter haben die Schlüssel.« Er legte Daumen und Zeigefinger an den Reißverschluss und sah sie an. Da sie ihn nicht aufhielt, öffnete er die Tasche und blickte hinein. Sanftes Licht strahlte ihm ins Gesicht. Das Innenfutter glitzerte wie eine Eishöhle, in die genau im richtigen Winkel das Licht einfiel. Am Boden lag ein seidenweiches Tuch, das mit den Stoffwänden m die Wette strahlte. Galdra spürte, dass er vergaß, wer und was er war, also zog er ruckartig den Reißverschluss zu. Die Hilfetaschen waren legendär. Sie waren ein Wochenende mit Frühlingssonne, eine Orgie mit Lustdämonen, ein 10-Gänge-Menü im besten Restaurant der Anderswelt und ein Monat Urlaub, zusammengerollt in einen handlichen Gegenstand. Sie trug das energetische Äquivalent eines Monatsgehaltes in sich. Und zwar nicht das eines Arbeiters, sondern eher das des Polizeipräsidenten. »Wie oft müssen sie zum Laden gebracht werden? Einmal im Quartal?«, fragte er. »Einmal im Monat«, erklärte die Chefin. »Kleine Geister und Dämonen werden einfach in die Tasche gesetzt und so vom Einsatzort entfernt. Größeren wirft man die Decke über. Für etwa 10 Minuten kann der Stoff die Energie der Tasche abgeben, dann ist sie nur noch ein ordinäres Tuch. Aber zehn Minuten Energiedusche sind ja auch verdammt viel. Haben Sie Kreide?« Automatisch griff Galdra dort hin, wo sich üblicherweise die Brusttasche seines Anzugs befand. Aber den trug er heute nicht. Er war im schwarzen Poloshirt gekommen. Extremer Schlabberlook für einen Inspektor, absolut adrett für jeden anderen Berufsstand. »Peinlich, die ist wohl zu Hause«, knirschte er. Die Gorgone griff erneut in den Spind und holte ein fingerdickes Stück schwarze Kreide heraus. »Sie erhalten ohnehin ein Kontingent vom Arbeitgeber«, lächelte sie schnell. »Ein Einsatz folgt einem simplen Plan, den die Ordnungshüter auch mehr oder minder so haben dürften. Eins: Patienten ausfindig machen. Das erledigt im Grunde das Rufsiegel des Patienten für Sie. Zwei: Umgebung sichern und – wenn nötig – Menschen ablenken. Drei: Erste Hilfe leisten. Vier: Patienten durch’s nächste Tor nach Hause bringen. Fünf: Bericht verfassen, wenn Zeit ist, in jedem Fall aber vor Schichtende. Eine Schicht dauert 24 Stunden und bedeutet grundsätzlich Bereitschaft. Notfall-Energiekugeln als Schlafersatz werden von mir oder meinem Stellvertreter ausgegeben, aber das mussten wir, Baal sei Dank, seit Jahren nicht machen. Murmel ist ohnehin hyperaktiv und Bum-Bum kann als Riese auch mal einen Monat nicht schlafen.« Als Nächstes gab sie ihm ein Zahlenschloss, zwei blaue Gummihandschuhe und einen Piepser und schloss die schmale Metalltür. »Sie haben Gerät vier, werden also auch Ersthelfer Nummer vier auf unserer Einsatztafel sein. Ich lasse den Notruf aus Südafrika gleich an Ihren Piepser leiten, dann treffen wir uns in einer Minute an der Mauer, okay?« »Roger«, nickte er. Kurz überlegte er, ob er das ganze Zeug in die Hilfetasche stopfen sollte, aber die Chefin kam ihm zuvor. »Nicht da rein. Da sind normale Seitentaschen aufgenäht für den Krimskrams.« »Ah, super.« Eine Minute später stand er fertig bepackt vor der einigen Wand im Gebäude, die aus echten Lehmziegeln gelegt war. Er hatte die Lederhandschuhe schon ausgezogen und zwängte die linke gerade in das klebrige blaue Gummi, als sein Piepser sich meldete. Er schielte darauf. »Tor 45378« stand dort. Johannesburg hatte 453 irgendwas, also war dieses Tor definitiv in der Gegend. Er hatte den zweiten Handschuh noch zwischen den Zähnen, als die Chefin angejoggt kam. Ihre Haarschlangen wippten im Takt ihrer Schritte. »Nummer da?«, fragte sie. »Jawoll, ich bin dann weg.« Er zog die pechschwarze Kreide aus der Hosentasche, malte einen Türrahmen auf den bröckeligen Lehm und schrieb die Nummer aus dem Gedächtnis in den Rahmen. Der Lehm floss wie Lava zu Boden und gab den Blick auf einen Weinberg mit Luxusanwesen frei, der noch im Sonnenaufgang döste. Nur die Vögel zelebrierten schon den Tag – ein Zauber, den sein erster Patient mit Sicherheit nicht nachvollziehen konnte. Er schlüpfte in den zweiten Handschuh, ließ den Rand an seinem Handgelenk schnappen und grinste die Chefin an. »Viel Spaß in Südafrika, Inspektor«, sagte sie feierlich. Mit einem großen Schritt stand er in der Sonne. In der Hitze. Auf der Erde.


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