Das Wort für das, was du bist, wird dich befreien, wenn du es lässt
Aktualisiert: 10. Apr. 2019
Wie schon auf Facebook angekündigt widme ich mich heute der SPIEGEL-Kolumne von Sibylle Berg namens “Es gibt keine normalen Menschen”. Und ja, den Pathos gibt’s bei mir wie üblich inklusive, gern geschehen. *hehe*
Kurz zusammengefasst geht es der Autorin auf den Keks, das heute jeder ein Wort für seinen Spleen hat. Der erste ist selbstdiagnostiziert glutenintolerant, findet paniertes Schnitzel aber suuuuper, das Kind soll bitte (grundlos) zuckerfrei aufwachsen und das Büro – *tufftäää* – bitte abgedunkelt werden für die armen, kleinen Hochsensitiven. So weit, so normal, alles knorke, man kennt dieses Bashing.
Anfangen möchte ich meinen Gegenkommentar deshalb gleich mit ein paar unverrückbaren Fakten, die allen gut tun werden:
1) Ich bin Journalistin, betrachte diese Kolumne also als das, was sie ist – ein Stück niedergeschriebene Meinung.
2) Frau Berg versucht dankenswerterweise weder, die Wissenschaftlerin zu spielen oder wegzudiskutieren, dass es Merkmal x und y gibt, sondern sie gibt eben ihren Senf dazu. Und ich sag’s jetzt nochmal ganz deutlich: Das. darf. sie.
3) Stellenweise musste ich wirklich schmunzeln, denn zusätzlich zur HS wirft der Text auch andere “Zipperlein” (leider gemischt mit handfesten Krankheiten) mit in den gleichen Sack und haut darauf herum. Und ganz ehrlich? Das ist zum Kichern, ganz klar! Wenn ich in einer heutigen KITA kochen müsste, für die einen zuckerfrei und für die nächsten vegan, ich hätte mich wahrscheinlich schon erschossen vor Frust!
Aber dann kommen die Klopper, die man leider – egal, welchen Standpunkt man vertritt – nicht so stehenlassen kann:
“Die Welt teilt sich im Moment nicht nur in links oder rechts, sondern in jene, die sich für normal halten und die anderen, die an etwas leiden und denken, sie müssten daran nicht leiden, wenn sie für ihr Leiden mehr Respekt erführen. Im Moment sind es besonders viele Hochsensible."
Uff, harte Nuss. Wenn ich mich umsehe – und das tue ich täglich in HS-Gruppen auf Facebook etc. – dann sehe ich durchaus, dass die meisten Hochsensitiven unter der Art leiden, wie ihr Gehirn verschaltet worden ist. Denn es ist eben nicht so einfach, wie es hier dargestellt wurde. (Und zum Respekt komme ich später!).
“Ups, denkt er, wenn er beim Klang des Martinshorns erschreckt, holla denkt er, wenn ihn die Stimmung seines Gegenübers beeinflusst, warum bin ich so verwirrt? Ah, richtig. Ich bin hochsensibel.”
Oh Gott, wenn das alles wäre. Wäre das Leben nicht wunderbar als HS? Lasst mich das etwasumformulieren, damit es der Realität etwas näher kommt:
“Meine Ohren werden noch in einer halben Stunde schmerzen, denkt er, wenn das Martinshorn vorbeiblökt, an dem die anderen gar keinen Anstoß zu nehmen scheinen. Gemeinsam mit dem Gedanken, welcher arme Tropf wohl hinten im Krankenwagen drin liegt und gerade sein Leben aushaucht, bekommt der Schmerz in Kopf und Ohren Kinder im eigenen Herzen und er schickt ein stilles Gebet an die geliebten Menschen des Unbekannten, denn die Statistiken sind gnadenlos. Einer von zweien wird pflegebedürftig, erkrankt an Krebs, wird mit etwa 65 vom Schlaganfall ins Grab gebracht. Wie alt ist er selbst nochmal? 45? Noch immer in der gleichen Bank, Tag für Tag. Strengt sich an für ein Gehalt, das die eigene Frau nur bitter belächeln kann und das auch ihn ins Grab bringen wird – aber maximal in ein günstiges Urnengrab mit kleiner Plakette am Baum. Holla, denkt er jetzt, wie konnte mich ein vorbeifahrendes Auto derart mitnehmen in eine Abwärtsspirale, an dessen Ende er immer zum gleichen Schluss kommt? Dass die Würfel von Anfang an gezinkt waren und er sich – allen Werbebotschaften zum Trotz – trotz Auto und Urlaubsreise einfach nicht sicher und frei fühlt? Ist das Depression? Ist das Neurose? Wie können die simplen Fakten eines Menschennotfalls ihn mitnehmen in seinen eigenen Seelennotfall? Was hat es ihm je gebracht, derart für einen Unbekannten zu empfinden? Leidet denn eigentlich irgendjemand an seiner statt? Und wenn nicht, ist dann durch die Verrückten wie ihn an alle gedacht… nur nicht an die Verrückten?”
Ich habe hier mit Absicht das Leid sehr weit in den Vordergrund gerückt. (Ist natürlich quatsch, ich habe es so aufgeschrieben, wie ich es sagen muss, weil ich sonst platze.) Und JA, diese ganze Wagenladung an Gedanken aufgrund eines simplen Faktums (Krankenwagen) ist ganz ganz ganz normal für HS. Aber, und jetzt kommen wir zurück zum eigentlichen Thema: Es ist eine Offenbarung(!!!!!), für diesen Zustand, für diese NICHT-Krankheit, für dieses Grübeln ein Wort zur Verfügung gestellt zu bekommen. Ein unendlich wertvolles, schatzgleiches Wort – die Grundlage fast jeden menschlichen Austausches. Dieses Wort wird dich davon befreien, so sein zu müssen wie alle anderen scheinbar sind. Das machen zu müssen, was alle anderen scheinbar machen, wollen, leben. Wer ein Wort für seinen Zustand hat, der kann recherchieren, sich Wissen aneingnen, sich mit anderen vernetzen – kurz, der muss weit weniger leiden.
Die Politik sagt: Wer das Vokabular hat, der hat die Macht. Die Religion sagt: Im Anfang war das Wort. Die Logik sagt: Weil der Mensch Worte hat, hat er Kultur, Geschichte, Gesellschaft, Frieden. Die Physik sagt: Was du ansiehst und mit Worten adressieren kannst, das kannst du beeinflussen
Ich sage: Das Wort für das, was du bist, wird dich befreien, wenn du es lässt.
Aber: Das setzt voraus, dass du die anderen sein lassen kannst, was sie sind. Und dass du dann anerkennen kannst, dass wir alle zusammen sowohl Eins sind als auch normal. Denn ja, liebe Sibylle Berg, “normal” gibt es gar nicht. Endlich hat es mal jemand gesagt, halleluja! Ein großes Danke dafür! Und ja, wenn jeder der acht Milliarden Menschen “eine überbordende Anteilnahme an seinem zugeschriebenen Alleinstellungsschicksal einfordert”(SPON), dann kriegen wir ein Problem. Die Kunst ist nämlich, sich – als Betroffener und als Außenstehender – zurücklehnen zu können und sagen zu können: “Diesen Kelch lasse ich jetzt an mir vorübergehen.” Ich muss nicht zur Geburtstagsparty eines Techno-Fans gehen, wenn ich schon an dem Punkt bin, an dem ich nur noch weglaufen will. Und ich zwinge niemanden samstags abends zu mir auf die ganz und gar stille Couch, wenn sie abtanzen wollten. Ich muss nicht glutenfrei backen für den Schnitzelfan, aber wenn meine Freundin mit Diabetes *jetzt* zum Mittagessen einkehren muss, passe ich mich eben an – und freue mich, dass normalerweise ich in meinem Leben entscheide und weder eine Krankheit noch mein Charaktermerkmal Hochsensitivität. (Hier übrigens liebe Grüße an die Leute mit echter Zölliakie, mit Diabetes, mit Depressionen, mit Kreuzallergien. Ich weiß, euer Kampf geht weiter gegen Dummheit und Vorurteile. Ich weiß, ihr seid genauso müde wie ich, euch ständig zu erklären. Ich hoffe, wenigstens ich habe den Unterschied zwischen einer echten Krankheit und Mode-Zipperlein besser herausgebracht.)
Um sich so zurückzulehnen und besagten Kelch tatsächlich wutlos an sich vorbeigehen zu lassen, braucht man aber dreierlei: Das Wort, das einen beschreibt (HS); die Freiräume und die Zeit, nach seiner Façon glücklich werden zu können; und die daraus resultierende Resilienz, dass man so okay ist, wie man ist, und man nicht alles mitmachen und einfordern muss, was andere mitmachen und einfordern. Denn die in der Kolumne angeführte aggressive Art, mit der auf alles und jeden geachtet werden muss, entsteht nur unter Druck. Aggression entsteht immer unter Druck! Und von nichts haben wir derzeit in der westlichen Welt mehr als Druck. Also: relax please! Das käme nicht nur mir als HS sehr entgegen, sondern allen. Und hier kann ich mich der SPON Autorin nur anschließen: “Erträglicher wäre es, wenn jeder sich an die ungeschriebene Vorgabe hielte, Menschen, die nicht er sind, absolut in Ruhe zu lassen.”
Ja, das wär schön.